Freitag, 30. November 2012

Absprung


Ganz ehrlich gesagt: Ich weiß nicht mehr genau, wann ich diese Kurzgeschichte geschrieben habe. Ich platziere sie einfach mal nach 2010, das könnte hinkommen, vielleicht war es aber auch 2011. Es spielt auch keine Rolle, es ist eine dieser Kurzgeschichten, die mir manchmal passieren, Ausschuss, ein paar Seiten, die ich hinhacke, wenn gerade eigentlich etwas anderes ansteht. Ausnahmsweise ist es mal eine, die ich tatsächlich beendet habe [Hier gibt es übrigens mehr davon für billig als eBook zu kaufen].

Es ist eine Geschichte, die ziemlich typisch für die Art ist, wie ich arbeite, auch, wenn sie sprachlich und inhaltlich mir zwar gefällt, aber doch eher Sub-Standard ist. Es ist aber, typisch für mich, eine wirr zusammgebastelte Angelegenheit aus Erinnerung und Erfindung, Borderline-Surrealismus, halb verstandenen Frauengeschichten und dazu noch immer wieder dieser Zoom auf vielleicht (etwas zu) symbolische Details. 

Untypisch, für mich, ist dieses Medien-Ding, also zum Beispiel, dass es um einen Super Nintendo geht. Normalerweise versuche ich hermetische Referenzräume zu bauen, also Geschichten, die sich nur an ihrem eigenen Motivfundus bedienen - Ideengeber in ist da, in gewisser Weise, David Lynch - , und sie nicht mit allzu sehr belegten Fremdmotiven, also solchen von außen anzureichern (mir ist klar, dass das nicht vollständig möglich ist, trotzdem).  
Das erleichtert mir meine leichte Tendenz zu surrealen Bildern, oder zu solchen aus dem magischem Realismus aber das sagen nur Leute, die mich beleidigen wollen. Auf jeden Fall ist es so viel einfacher, meine eigenen Motive zu unterwandern und zu drehen, es gibt mir eine größere Kontrolle über Motive und Bilder. Untypischerweise ist das in dieser Geschichte auch gar nicht so stark, in dem Sinn ist sie, für mich, auch ein bisschen experimentell. Aber nicht sehr.



Feigling


Bild von hier.
Als wir jung waren, sprangen wir ständig: Wir sprangen von Bäumen, wir sprangen vom Rutschturm auf dem Spielplatz, im Sommer sprangen wir ins Wasser und im Winter in den Schnee, wir sprangen in die dunklen Keller verlassener Gebäude, um unseren Mut zu beweisen, und wenn es nichts gab, von wo wir runterspringen konnten, sprangen wir einfach auf der Stelle auf und ab. Als wir jung waren, verbrachten wir mehr Zeit in der Luft als auf dem Boden.
Was mich heute wundert, ist nicht, dass wir fünf Jahre lang ununterbrochen flogen, viel mehr wundert mich, dass wir dabei so selten fielen.


Es gibt nur eine Verletzung, an die ich mich erinnern kann: Ich brach mir beide Arme. Zuerst merkte es niemand. Ich war von einem Kastanienbaum gesprungen, es war Herbst, und wurde früh dunkel, ich hatte die Kastanien übersehen, die unten um den Baum lagen. Ich landete zwar auf den Füßen, aber meine Füße rollten auf den glatten Früchten weg, mitten im Schwung meines Aufpralls, ich fiel nach vorne, und knallte mit beiden Armen auf die Kastanien. Meine Freunde – diejenigen mit denen ich damals flog – standen in einem Kreis um mich herum. Unsere Eltern riefen uns praktisch gleichzeitig zum Essen rein.

Heute würde ich sagen, wir waren Wohlstandskinder, aber unsere Eltern konnten nicht anders. Wenn wir etwas nicht hatten, dann war es nicht, weil unsere Eltern es sich nicht leisten konnten, sondern weil sie es nicht vertreten konnten, weil sie es nicht wollten, und uns in langen Monologen erklärt, warum.
Einige von uns traf es schlimmer als die anderen. Meine Eltern versteckten beispielsweise immer das Antennenkabel des Fernsehers im obersten Küchenregal, wenn sie alleine weg fuhren, und zwangen mich so zu aufwändigen Kletterpartien über die glattgeputzten Arbeitsflächen. Christian, einer von uns, der älter war, und einem manchmal spontan den Arm auf den Rücken drehte, hatte fast alle He-Man-Figuren, einen Fernseher im Zimmer, und einen Super Nintendo, mit dem wir an regnerischen Tagen sprangen.
Als ich sechs wurde, waren wir in das Dorf gezogen, 700 oder 1000 Einwohner muss es gehabt haben, es passierte nicht viel. Es gab in dem Dorf kein Krankenhaus, das nächste war eine halbe Stunde entfernt, und wenn man noch die halbe Stunde dazu rechnet, bis meine Eltern bemerkten, dass mit meinen Armen etwas nicht stimmte, und die Wartezeit in der Notaufnahme, dauerte es fast anderthalb Stunden, bis die Brüche behandelt wurden. Sie waren glatt, ich bekam einen Gips um jeden Arm, blieb eine Nacht im Krankenhaus, und war so schnell wieder zu hause, dass ich die Glückwunschkarten, die im Kunstunterricht für mich gebastelt wurden, mir nach Hause nachgeschickt werden mussten. Am nächsten Tag fuhr ich schon wieder Fahrrad, es war nur etwas schwerer als normal.
Wir wohnten in dem neuen Neubauviertel, unser Haus war aus rotem Backstein, es sah frisch aus. Christians wirkte verschimmelt: Er wohnte in dem alten Neubauviertel, das Haus seiner Eltern war grau, Beton, den jemand zu Dekorationszwecken mit zerbrochenen Muschelschalen angereichert hatte, und an das Grau hatten sich Algen gesetzt, die unter den Regenrinnen grün-gelbe Ablaufspuren hinterlassen hatten. Meine Eltern sagten zu mir, dass Christian kein guter Umgang für mich sei, aber nicht, weil seine Eltern weniger verdienten als meine, nicht, weil sein Vater nicht im gehobenen mittleren Management arbeitete wie meiner. Sie sagten, Christian sei dreckig, dreckiger als ich, sie sagten, seine Eltern seien kein guter Umgang, der Vater tränke, das wüssten sie, weil sein Vater meinen immer in der Dorfkneipe träfe, nur ginge meiner immer früher, das, und fünf, sechs andere Gründe.
Ich hatte zwei Gründe dafür, mit meinen gebrochenen Armen zu Christian zu fahren: Einer war sein Nintendo, wir wollten damit klettern und springen, wenn ich es wegen der gebrochenen Arme schon nicht draußen tun konnte. Von dem anderen wusste niemand etwas. Ich weiß nicht, ob Christian etwas ahnte, ich vermute nicht, zumindest in einem hatten meine Eltern recht: Er war nicht unbedingt klug, jedenfalls bemerkte er nicht, dass ich eigentlich gar nicht wegen ihm da war, sondern wegen Annika.
Annika war das einzige Mädchen in unserer Gruppe, und eine unserer besten Springerinnen: Sie war diejenige, die in der verlassenen Fabrik als erste in das Kellerloch gesprungen war, dessen Boden man nicht sehen konnte. Sie hatte es mit ihren Eltern sogar noch schlimmer getroffen als ich: Sie waren geschieden, Annika lebte bei ihrer Mutter. Sie durfte nur dritte Programme sehen, und das auch nur unter Aufsicht, außerdem kaufte ihre Mutter ihr nie Hosen. Wenn wir übers Fernsehen sprachen, konnte Annika nicht mitreden, und zum Springen war sie denkbar schlecht angezogen. Einer unserer Lieblingssprungplätze war der Spielplatz, von dessen Rutschturm wir immer sprangen. Außerdem pinkelten wir die Rutsche runter. Da war Annika mir aufgefallen.
Viele von uns hatten vor ihrem ersten Sprung länger überlegt, länger oben auf dem Turm gestanden, und mehr Angst vor der Höhe gehabt als Annika an dem Sommerabend, als sie das erste mal sprang. Sie stand kaum 10 Sekunden auf dem angemorschten Holzgerüst, und dann segelte sie mit ausgestreckten Armen in den Sand. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, mit hellblauen Blumen, und der Sprungwind klappte es hoch, so dass wir alle, für die Hundertstelsekunde ihres Falls ihre Unterwäsche sehen konnten, auf der rote Herzchen waren. Wir alle reagierten anders drauf: Christian lachte sie aus. Andreas, der immer der kleinste und zierlichste von uns war, und mir kurz vor dem Abitur gestand, dass er glaube, schwul zu sein, drehte sich weg. Gerald, den wir alle nur Gerry nannten, ging hin und half ihr auf. Er übernahm später das Baugeschäft seines Vaters: Er war einer dieser Menschen, deren Lebensweg von Geburt an vorherbestimmt ist. Ich stand nur da und starrte.
Es fällt mir heute schwer, im Zusammenhang mit dem Kind, das auf dem Spielplatz stand und auf das erste Mädchen seines Alters starrte, dass er in Unterwäsche gesehen hatte, von Liebe zu sprechen. Wir alle hatten sie dabei beobachtet, wie sie sich hinhockte und die Rutsche hinunterpinkelte, genau wie sie uns dabei beoachtet hatte. Dass Annika ein Mädchen war, und aussah wie eines, war nichts grundsätzlich neues für uns. An Annika interessierte mich nicht, was während des Sprunges passiert war, mich interessierte, warum sie überhaupt gesprungen war.
Ich war oft bei Christian, und es war nicht nur der Nintendo. Es war auch Annika. Unser Dorf war klein, und niemand wohnte weit auseinander: Der Weg von unserem frischen Viertel in Christians altes dauerte keine zwei Minuten. Dass Annika neben Christian wohnte, könnte also Zufall gewesen sein, es war fast unvermeidlich, dass einer von uns neben dem anderen wohnte. Wir alle waren Nachbarn. Dass ihr Zimmerfenster aber direkt gegenüber dem von Christian lag, dass man sogar hineinsehen konnte, war mehr als Zufall, daran glaubte ich damals, wie ich heute daran glaube. Auch alles andere, was bei Christian passierte, muss ich für mehr als Zufall halten, obwohl es nur langsam begann. Christians Eltern waren zwar weniger rigide, in ihren Ansichten darüber, was ihren Sohn verderben könnte, dafür musste er aber helfen: Alle paar Stunden rief seine Mutter ihn runter, er musste den Müll vor die Tür bringen, er musste die Spülmaschine ausräumen, oder die empfindlichen Teile von Hand abwaschen, das, und hundert andere kleiner Aufgaben. Kurz vor dem Abendessen musste Christian helfen, den Tisch zu decken. Mir machte das nichts: Ich sah kaum vom Bildschirm auf, ich drückte einfach weiter auf Knöpfe und sprang auf dem Bildschirm, obwohl es nicht einfach gewesen war, meine gebrochenen Arme weit genug zusammenzubringen, dass ich den Controller halten konnte.
Christians Fernseher stand links unter dem Fenster, ich starrte darauf, und nehme an, ich hätte wohl kaum bemerkt, dass sich jemand in Annikas Zimmer bewegte, wenn sie nicht immer und immer wieder das Licht an- und ausgeschaltet hätte, wie um mir ein Morsesignal zu senden, das letztendlich aber nichts bedeutete als: Schau mich an. Es gab keine aufwändige Fenstershow, als sie es endlich geschafft hatte, dass ich aufstand, an Christians Fenster ging und ihr zuwinkte: Sie winkte zurück, drehte sich einmal um die eigene Achse, und winkte noch einmal. Und das war es dann.
Die Fenster waren vielleicht drei oder vier Meter voneinander entfernt, und obwohl es regnete, war es Sommer: Es war vollkommen logisch, dass sie ihr Fenster öffnete. Vielleicht war sie auch eine Weile nicht in ihrem Zimmer gewesen, und wollte lüften: Diesen eigenartigen Mädchengeruch herauslassen, der – das beobachtete ich später – gar nicht von den Mädchen oder Frauen selbst, von ihren Körpern ausgeht, sondern von dem, was sie damit berühren, wie von einer ganz speziellen Mädchenaura infiziert.
Annika öffnete ihr Fenster, und legte ihre Arme auf das Fensterbrett, Regen tropfte auf ihre Haare. Ich öffnete Christians Fenster. Wir sahen uns in die Augen, Zwischen uns war nichts als die Höhe des halben Hauses. Heute glaube ich, dass Annika geflüstert hat, aber eigentlich kann das nicht sein: Immerhin regnete es, immerhin war es ein ganzes Stück bis zu ihr rüber. Wie auch immer, Annika sagte: Spring.
Wären meine Arme nicht gebrochen gewesen, ich hätte es vielleicht getan. Vielleicht ist das aber auch nur eine Ausrede, die ich mir später zurechtgelegt habe. Es ist mir klar, dass Annika nicht von mir hätte verlangen dürfen zu springen, weder mit gebrochenen Armen, noch ohne. Es war zu weit, es war zu gefährlich, der Fall wäre zu tief gewesen, es hätte zu viel schief gehen können. Es ist mir klar, dass sie die Unvernünftige war, und ich der Vernünftige. Sie wäre sicherlich trotzdem gesprungen. Als Christian zurück kam, und mir sagte, dass das Essen fertig sei, Rosenkohl, zum Kotzen, wie er sagte, war das Zimmer gegenüber wieder dunkel, als wäre nie etwas passiert. 

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