Sonntag, 25. November 2012

Das erste Mal

Ich wollte damals - 2005 - den Text mit dem Satz "Früher hätten wir sowas verprügelt" beginnen, habe es dann aber doch gelassen (ich habe den Satz allerdings später in einer Rezension verwendet). Ich war aufgeregt damals: Mein erster Text für ein richtiges Buch, ein Generationenbuch sollte es werden, ein ambitioniertes Projekt namens "Profil! Ansichten der Generation P.", wobei P für alles mögliche stehen sollte: Praktikum, und die anderen habe ich vergessen. Exemplare gibt es mittlerweile bei Amazon ab 1 Cent, und ich bin, ehrlich gesagt, überrascht, dass es  die Website dazu noch gibt.  
Ich weiß nicht so mehr ganz genau, was ich von diesem Text und dem Konzept halten soll. Trotzdem: Mein erster großer Text! Für ein richtiges, echtes Buch! MIt ISBN und allem. War ich stolz. Hier ist er:

Einhundertzwanzig Prozent. 
Lan Böhm und ihr Kiez.

Die Friedrichshainer Pflastersteine sind schon arg ramponiert. Auf manchen sind Aufkleber: „Nimm mich mit, ich bin ein politisches Kampfmittel“. Der LIDL ist mit Sperrholzbrettern verrammelt. Es ist Walpurgisnacht. „Bin gleich um die Ecke, beim Grillen“ hat Lan geschrieben. Um die Ecke ist auch der Boxhagener Platz: Dieses Jahr Treffpunkt der 1.-Mai-Demonstranten. Um die Ecke sind die Hundertschaften dick eingepackter Polizisten aus dem ganzen Land, die darauf warten, dass die betrunkenen Punks anfangen, mit den „politischen Kampfmitteln“ zu werfen.



Schwer vorstellbar, was so alles um die Ecke sein soll: Es ist die erste warme Nacht des Jahres, die Kneipenbesitzer haben schon Stühle auf die Strasse gestellt, die Friedrichshainer sitzen darin, als wäre Sommer angesagt, nicht Randale. Die Treppenstufen vor der WG „Siebensam“ sind warm, als Lan um die Ecke kommt, leicht gehetzt, lächelnd, und sich für die Verspätung entschuldigt. Sie hat glatte, dunkle Haare und ein Muttermal auf der Stirn, das genau an der Nasenwurzel sitzt, zwischen den Augen, fast ein indischer Bindi. Ihr Gesicht hat auf den ersten Blick etwas leicht uneuropäisches, aber das ist vielleicht nur Einbildung.
Lan schliesst die Tür auf, das Namenschild an der Tür sieht aus wie die Namensschilder an Bürotüren. Die WG im zweiten Stock ist riesig, ein ehemals herrschaftlicher Berliner Altbau wie aus dem Bilderbuch, komplett mit Bediensteteneingang direkt zur Küche, wo ein Küchentisch auf Bierkästen im Pfandwert von mindestens 50 Euro ruht. Im Flur stehen Fahrräder, und das Gästebett ist sowieso immer gemacht.
 „Wir wohnen hier zu siebt“, erzählt Lan, „deshalb heisst die WG Siebensam.“

Papiere auf dem Boden


Lans Zimmer ist gemütlich hellholzig und zeigt deutliche Spuren der Eigenart von Zeitungsredakteuren, den Boden als flachen Aktenschrank zu nutzen. Im  Kleiderschrank hängen Kleider, die seidig und bunt aussehen. Ao Dai heissen die, sagt Lan später, übersetzt heisst das „langes Kleid“. Die vietnamnesiche Nationaltracht.  
„Wir sieben sind zufällig alle in Berlin gelandet. Wir kannten uns schon, bevor wir hier eingezogen sind, aus dem JMMV“, sagt Lan.
Der JMMV ist der Jugendmedienverband Mecklenburg-Vorpommern, und während im „Weinsalon“ die White Stripes laufen und Lan an einem schwarzen Köstritzer nippt, erzählt sie, sie sei „irgendwie reingerutscht“. Dreizehn war sie da, und die „Jugendmediengruppe Wismar e.V“ suchte per Aushang an Schulen Schülerzeitungsredakteure. „Eine Freundin und ich haben uns gedacht, das könnte ja ganz lustig sein“, sagt Lan, „Es konnte ja niemand ahnen, dass das so groß werden würde.“ Sie begann, für die Wismarer Stadtschülerzeitung „Der Biss“ zu schreiben und kam in den Vorstand der Jugendmediengruppe. 2000 wurde Lan dann in noch einen Vorstand gewählt, den des JMMV – bevor sie überhaupt Mitglied war. Der JMMV wollte damals ein Büro in Wismar eröffnen, da kam Lan grade richtig.  Auf einer der JMMV-Mitgliederversammlung für Schülerzeitungsredakteure wurde Lan angesprochen, ob sie nicht mithelfen wolle, das Büro in Wismar aufzubauen. Lan unterschrieb den Antrag auf Mitgliedschaft, wurde in den Vorstand gewählt und nahm das Angebot an. Womit längst nicht alles getan war. Lan und ihre Mitstreiter schrieben Anträge, machten potentielle Geldgeber ausfindig, und holten die Jugendmediengruppe, den jugendparlament-föderverein, den Stadtjugendring und die Pfadfinder mit in das zukünftige Büro. „Im August 2000 wurde das Büro dann mit Grillwürsten und Musik eröffnet“. Und wurde ein zweites Zuhause, in dem bis spät in die Nacht die Kaffemaschine und der Kopierer rotierten.  „Wir haben bis spät in die Nacht auf dem Sofa gesessen und Ideen ausgebrütet“, sagt Lan so, wie andere über jugendliche Nächte am See mit Lagerfeuer erzählen.

Orchidee

Unter anderem wurde Lan mit der „Personalführung“ beauftragt. „Das haben wir aber nicht so empfunden, das war eher ein freundschaftliches Miteinander von Personen, die am gleichen Strang ziehen“. Trotzdem sah Lan sich als grade Volljährige in der merkwürdigen Situation, Einstellungsgespräche führen zu müssen.
„Damals habe ich meine Familie ein bisschen vernachlässigt“, sagt Lan, „ich bin von der Schule direkt ins Büro, musste tausend Emails beantworten, telefonieren und kam erst spät nachts nach Hause. Meine Eltern haben sich zwar nie beschwert, aber ich glaube, sie hätten mich lieber öfter zuhause gehabt.“
Lans Mutter ist Vietnamesin. Sie heisst auch Lan. „Das bedeutet Orchidee“, sagt Lan, die jüngere, und nestelt an ihren Haarnadeln herum.
 „Die Vietnamesen haben ein anderes Verständnis von Familie. Wenn da die Grosseltern zum Abendessen einladen, müssen alle anderen Termine abgesagt werden.“
Lan war zwanzig,  als sie sich auf die Suche nach ihren vietnamnesischen Wurzeln machte. „Meine Mutter hatte sich nach zwanzig Jahren in Deutschland ziemlich angepasst. Ich glaube, sie ist stolz auf mich und meinen Bruder, weil wir uns für Vietnam interessieren.“
Nach dem Abitur wollte Lan dort ein Praktikum machen. Sie schrieb Emails an das Goethe-Institut in Hanoi, die mit „Kommen Sie doch einfach mal vorbei“ beantwortet wurden. Lan kam vorbei – und der Zuständige war verreist. Die Stellvertreterin gab ihr die Praktikantenstelle.
„Ich bin da einfach reinmarschiert. Ich habe erst später mitbekommen, wie schwer es ist, ein Praktikum im Goethe-Institut zu bekommen. Als ich da war, musste ich anderen Bewerbern dauernd Absagen schreiben“.

Orientierungslose Polizisten

Lan wohnte beim vietnamnesischen Teil ihrer Familie, studierte an der Universität vietnamnesische Sprache und Kultur, fuhr in die die Provinz, in der ihre Grosseltern geboren worden waren – im familienbewussten Vietnam eine wichtige Pilgerreise. Überhaupt, sagt Lan, sei sie viel im Land herumgereist. „An einem Tag hat ein Freund mir in einer Tiefgarage Motorradfahren beigebracht, auf einer alten russischen Maschine. Am nächsten Tag haben wir die in den Zug geladen und eine Motrorradtour durch die Berge gemacht“. Lan schaut ein bisschen verträumt in ihr Glas Köstritzer.
Viel offener seien die Vietnamnesen, und optimistischer. Nur das Konzept von Freizeit sie ihnen fremd.  „Den Deutschen geht es nicht schlecht im Vergleich – und trotzdem gibt es hier eine Kultur des Meckerns. Wenn in Vietnam drei Familien in einer Wohnung leben und der Vater mehrere Jobs machen muss, dann hätte er das Recht zu meckern – aber er tut es nicht“.  Was sie mitgenommen hat, sagt Lan, ist auf jeden Fall dieser Optimismus, nicht meckern, sondern tun. Und ein anderes Verhältnis zur Familie, die ihr wichtiger geworden ist.
Es ist spät geworden. Eine der Haarnadeln ist auf den Boden gefallen. Auf dem Tisch hat sich das volle Glas Bier hat sich inzwischen in ein leeres Glas Rotwein verwandelt. Draussen ist es kühler geworden. Jemand hat einen Tisch auf die Strasse gestellt, um den eine Gruppe Menschen sitzt. Deshalb mag Lan Friedrichshain, „Es gibt ja diese Kiez-Mentalität“, sagt sie, „Hier muss man nicht weit laufen, wenn man mal weg will. Es ist immer was los.“ 
Die Pflastersteine sind noch weniger geworden. In Richtung Boxhagener Platz stehen Polizisten, behelmt, mit gezückten Kameras und schauen misstrauisch die Punks, Alternativen und Gothics an, die auf der Strasse Bier trinken. Es riecht nach Haschisch. „Wie ein Volksfest“, meint Lan, „nur für eine andere Subkultur als den Schützenverein“. Lan trifft Freunde auf der Strasse, „Das ist unsere Friedrichshainer Gang“, stellt sie sie augenzwinkernd vor.
Die Polizisten werden von der Einsatzleitung etwas orientierungslos in der Gegend herumgeschickt und riegeln Plätze und Strassen ab, auf denen erkennbar nichts los ist. Die Friedrichshainer Gang läuft hinterher. „Randaletourismus“, nennt ein männliches, blondes Gangmitglied das. Bis jetzt ist alles ruhig. „Es bringt doch nichts, Fensterscheiben einzuwerfen“, sagt Lan, „ das ändert die Politik nicht“.

Signale setzen

2003 hat Lan angefangen zu studieren, erst Kulturwissenschaften mit den Nebenfächern Politik- und Südostasienwissenschaften. Nach einem Semester brach sie das Studium ab. „Zunächst mal war der Sommer 2003 geprägt von den Prostesten gegen Studiengebühren“, sagt Lan. Viele Seminare und Vorlesungen wurden in die S-Bahn oder auf den Alexanderplatz verlegt, die meisten fielen gleich aus. An den Protesten beteiligte Lan sich irgendwann nicht mehr. „Es gab viele Studenten, die Studiengebühren zahlen wollten, unter gewissen Voraussetzungen natürlich, aber deren Stimmen wurden unterdrückt“. Zum anderen hatte Lan, wie üblich, alle Hände voll zu tun mit organisieren, 2003 stand das zehnjährige Jubiläum des JMMV an, der zu dem Anlass einen Presseball organisieren wollte. „Das war ein Riesending“, sagt Lan, „und hat meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch genommen“.
 Lan fand die Kulturwissenschaften zu schwammig, zu unkonkret, der Leistungsdruck fehlte. Sie musste bei den Seminaren nicht unbedingt anwesend sein, was ihr entgegenkam, weil sie dann immer besseres, ehrenamtliches zu tun hatte.  
Lan wechselte zu Politikwissenschaften, im Nebenfach studiert sie weiterhin Südostasienwissenschaften. „Ich brauchte einen Studiengang mit Leistungsdruck“, sagt Lan, „aber vor allem wollte ich ein konkretes, realitätsnahes Studium.“ Jetzt heissen Lans Seminare nicht mehr „Das Mahl als kultureller Gegenstand“ sondern „Friedens- und Konfliktforschung“ oder „Einführung in das Völkerrecht“.
 „Meine Freunde machen immer Witze darüber, dass ich Bundeskanzlerin werden sollte“, sagt sie, „aber das will ich nicht“. Zuwenig Macht hätten die Politiker, zu sehr müsse Rücksicht auf Parteipolitik genommen werden.  „Ausserdem sehe ich mich an der Seite der Basis, bei denen, die es wirklich betrifft. Deswegen haben wir auch versucht“, erzählt Lan, „ein Jugendparlament in Wismar aufzubauen“  Der Plan war, Jugendlichen Mitspracherecht für ihre Belange zu geben, durch zwei Sitze in der Bürgerschaft, inklusive Rede- und Stimmrecht. Das funktionierte nicht so gut. „Wir liefen durch die Ämter, redeten uns den Mund fusselig, aber oft gab es von oben zu hören, dass das Geld fehlt. Aber wenn ich ehrlich bin, scheiterte das Projekt nicht an der Stadt. Eher an den Jugendlichen, die nicht bereit waren, sich hundertzwanzigprozentig für ihre Interessen einzusetzen“.  Aus dieser Erfolglosigkeit wurde die Beteiligunskampagne des JMMV geboren, die aus dem Versuch mit dem Jugendparlament die Lehre zog, die Jugendlichen nicht mehr in starren Formen wie denen eines Parlamentes zu organisieren.
„Wir haben das nie wirklich als ein Scheitern begriffen, eher als langsames Herantasten an die Frage, wie man Jugendliche überhaupt beteiligen kann“.
Jetzt ging es eher um konkretere Projekte, um einen Skatepark, Konzerte, persönliche Lokalpolitik. Dazu wurden auch mal Vertreter der Stadt eingeladen, um mit den Jugendlichen zu diskutieren. Einige Projekte scheitern, andere nicht.
 „Ich bin realitistisch genug um nicht zu denken, dass die Politiker danach nach Hause gehen und sich sagen: ‚Oh, das habe ich ja gar nicht gewusst, dass muss jetzt unbedingt geändert werden’“, sagt Lan.
Sie will Signale setzen, den Kindern und Jugendlichen zeigen, dass es möglich ist, sich zu engagieren, auch wenn sich dann nicht viel ändert. Wenn in konkretes Projekt keinen Erfolg hat, ist das zwar ärgerlich, aber nicht schlimm. Es geht Lan nicht nur um die Projekte.
„Ich bin da Idealistin. Wenn sich nur einer der Jugendlichen danach weiter engagiert, ist schon etwas erreicht, denn der bringt möglicherweise wieder andere dazu, sich für etwas einzusetzen.“ 
An ihrem eigenen Idealismus zweifelt Lan nicht, höchstens an den Jugendlichen, die sich in ihrer politischen Lethargie wohlfühlen und nicht dazu gebracht werden können, sich zu beteiligen. 
„Da spielen Parteilinien keine Rolle mehr.“ Die Jugendlichen seien in ihren Interessen sehr fragmentiert und nähmen sich deswegen aus den unterschiedlichen Parteiprogrammen, was ihrer persönlichen Auffassung von Weltverbesserung am nähesten käme.
„Die Jugendlichen wollen sich nicht mehr langfristig binden“, sagt Lan resigniert, „das haben die Politiker nicht begriffen, die sagen, ‚Wenn ihr euch beteiligen wollt, tretet doch in die Partei ein, da stehen auch alle Chancen offen’.“
Deshalb hatte Lan auch Zweifel, ob das Open Space, ein Projekt der Beteiligungskapagne, funktionieren würde. Es fand 2004 in einer Rostocker Schule statt, das Konzept war, einem kompletten Gymnasium zwei Tage unterrichtsfrei zu geben. Aber nicht, damit die Schüler zuhause bleiben konnten – sie waren dazu aufgerufen, aktiv ihre Schule zu verbessern. 
„Ich hatte erst Angst, dass sich keiner dafür interessiert“, sagt Lan. Sie sollte die Klassen 5 bis 8 anleiten, also genau das Alter, in dem die Schüler eher einem chaotischen Bienenschwarm ähneln. Aber als Lan das Konzept erklärt hatte – lockere Interessengruppen sollten sich zu ungezwungenem Austausch zusammenfinden – sah sie sich von einer Traube aus Kindern umringt, die alle mehr wissen wollten.

Apfelschorle und Jeremy Rifkin


Besonders gerne erzählt Lan von zwei Projekten, die die Schüler angestoßen haben. Das eine war Sexualkundeunterricht von älteren Schülerinnen für jüngere Schüler.
„Die Diskussion ging nicht ohne Gekicher ab, aber am Ende wurde es dann doch sachlich“. Lan lächelt die Erinnerung an.
 Das Ergebnis war, dass die jüngeren Schüler zu bestimmten Sprechzeiten zu den älteren kommen können, die Schule stellt einen Raum dafür zur Verfügung, um von gleich zu gleich über Dr.-Sommer-Themen wie Verhütung und die drei ersten Male, erste Liebe, ersten Kuss, ersten Sex, reden zu können.
„Und die Fussballjungs waren richtig niedlich“, sagt Lan. Die wollten eigentlich nur in der Pause Fussball spielen, hatten aber keinen Fussballplatz. Also starteten sie eine Unterschriftensammlung für einen Fussballplatz auf dem Schulgelände, sammelten Geld in ihren Baseballkappen und machten einen Mitschüler ausfindig, dessen Vater ein Bauunternehmen hatte.
„Die haben richtig Werbung dafür gemacht“. Einen Fussballplatz gibt es an der Rostocker Schule immer noch nicht.
„Die Schüler haben gesehen, dass andere sich für ihre Projekte interessieren, und das nächste Mal klappt es vielleicht“. 
Sie wird von Geschrei unterbrochen, ein betrunkener Radfahrer schreit einen Polizisten an, er hätte ihn vom Fahrrad geworfen. Ein anderer Polizist holt eine Kamera heraus, um die Auseinandersetzung zu filmen, der Scheinwerfer oben an der Kamera beleuchtet den Radfahrer. Ein Freund versucht ihn zu beruhigen, eine Menschentraube bildet sich um die beiden, bereit, einzuschreiten. Lan stellt sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, was da passiert.
Als sich alles wieder beruhigt hat, beginnt Lan von Jeremy Rifkin zu erzählen. Der ist von Haus aus amerikanischer Soziologe und Ökonom, aber auch antineoliberaler Kreuzritter und einer der 150 einflussreichsten Intellektuellen der USA. Lan war auf einer Diskussionsveranstaltung zu seinem Buch „Der europäische Traum“, in dem Rifkin sich eine europäische Weltutopie zurechtschreinert.
„Da hat er gesagt, dass in Europa der amerikanische Traum fehlt, vom Tellerwäscher zu Millionär. Dieser Gedanke, dass jeder es schaffen kann, das produziert ja auch einen ungeheuren Optimismus. Das vermisse ich in Deutschland“. 
Es ist früh geworden. Die Friedrichshainer Gang hat sich zerstreut. Niemand hat Steine geworfen. Lan hat lange geredet und trinkt jetzt Apelschorle. In der Mitte der Frankfurter Allee schläft ein Päarchen unter einer Decke, neben sich zwei Gitarren. Ein romantisches Bild. Wenn die beiden nicht vom flackernden Blaulicht unzähliger Einsatzwagen beleuchtet würden.

Charlottenburg, später

Charlottenburg zwei Tage später ist da so ganz anders. Die Kneipen hier sind teurer, jeder zweite trägt ein Musikinstrument mit sich spazieren. Sogar die Türken, die vor einem Café sitzen und Wasserpfeife rauchen, sehen selbstgefälliger aus als die in Kreuzberg. 
Hier sind die Redaktionsräume der Jugendpresse, dem Dachverband des JMMV. „Sorry, ich komme ein bisschen später“,  hat Lan geschrieben, „ich habe Termine verwechselt“. Die beiden Türken reden lautstark, als Lan kommt, leicht gehetzt, lächelnd, und sich für die Verspätung entschuldigt.
Das Treppenhaus zu den Redaktionsräumen der Jugendpresse ist mit Marmor ausgekleidet, ob echter oder falscher lässt sich nicht so genau sagen. Die Räume selbst sind symphatisch unordentlich, überall liegen Papier und Zeitschriften herum, an den Computern in den Büros sitzen Jugendpresseredakteure, lesen Emails oder tippen, die Räume haben große Fenster. An einer Wand hängt ein Blatt, auf den ein Kreis gemalt ist, darüber steht: „Im Fall von Frust, Blatt auf eine weiche Unterlage legen und Kopf gegen den Kreis schlagen“.
Ungefähr 10 Umzugskartons, mit Schülerzeitungen gefüllt, stehen im Flur, die müssen alle gesichtet werden. Im Moment organisiert Lan einen Schülerzeitungswettbewerb, der unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten steht. „Ich würde lieber wieder mehr schreiben und weniger organisieren“, sagt Lan und gießt sich ein Glas Wasser ein. In Berlin ist es heute heiß.
 „Das Besondere an unserem Wettbewerb ist, dass wir getrennt bewerten.“ Es gibt nicht nur Preise für die besten Schülerzeitungen, da räumen meistens die Gymnasien ab. Die Preise werden pro Schulform gesondert vergeben, also für die beste Grundschulschülerzeitung, für Gesamtschulen, Realschulen, Gymnasien, Sonderschulen.
 „Letztes Jahr wollten wir einen berühmten Journalisten als Moderator für die Preisverleihung einladen“. Lan schrieb unter anderem Anfragen an Ullrich Wickert und Thomas Roth.  Beide sagten zu, aber nur einer konnte moderieren. „Wir hatten eigentlich gar nicht damit gerechnet, dass auch nur einer von denen zusagt“, sagt Lan. Wir haben uns dann für Ullrich Wickert entschieden“. Sie lacht. „Aber dieses Jahr moderiert dann Thomas Roth“. 
Bei der Preisverleihung, letztes Jahr im Schloss Bellevue, werden hochgewichtige Reden geschwungen, in denen erzählt wird, wie sehr Schülerzeitungen die Demokratie fördern.
„Das Problem ist“, sagt Lan, „dass die Schülerzeitungsredakteure dabei in den Hintergrund treten. Da will ja nicht nur der Schirmherr reden, da möchte noch ein Sponsor und noch ein Sponsor Redezeit“ Und die Sponsoren dürfen nicht verägert werden, schliesslich halten die den Wettbewerb am Leben. Aber auf dem Sponsorentreffen war Lan nicht. 
„Ich hatte keine Lust, denen Honig ums Maul zu schmieren, das können andere viel besser“. Und die Kontakte möchte sie auch nicht. Jedenfalls nicht, um die Karriereleiter hochzuklettern. 
„Ich sehe mich als Vermittlerin“, sagt Lan, „ich möchte den Kindern und Jugendlichen dabei helfen, Aufmerksamkeit für ihre Belange zu bekommen“. 
Und ihre weiteren Zukunftspläne? „Vielleicht nach Neuseeland, auf jeden Fall zurück nach Südostasien. Ich möchte gerne Aufbauhilfe leisten“, sagt Lan, die Idealistin.
Bevor Lan sich an ihren Computer setzt, empfiehlt sie noch ein Buch von Jeremy Rifkin – "End of Work", heißt es.

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