Sonntag, 13. Januar 2013

Von der Bühne runter gespiegelt

Vor ein paar Tagen war ich als Theaterkritiker unterwegs, und musste in Celle das Stück "Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee" anschauen und besprechen. Da es für nachtkritik.de war, musste es noch in der Nacht fertig werden, und aus bestimmten Gründen war das für mich zu diesem Zeitpunkt nicht so richtig erfreulich. Deshalb, und weil das Celler Schlosstheater bei solchen Premieren ein, finde ich, eigenartiges Publikum hat, das noch ein bisschen härter drauf ist als anderes Premierenpublikum, und weil das so wunderbar in das Schloss passt, postete ich in der Nacht noch auf Facebook: "Wieder sehr stark: Der Drang, übers Publikum zu schreiben, und nicht übers Stück. Schlosstheater Celle, du schaffst es immer wieder." Dies ist der Text dazu, sozusagen ein Spiegeltext zu der oben verlinkten Kritik. 



Heimkehrgesang

Wenn du vorher in Wolfsburg und Lehrte warst, ist der Celler Bahnhof auch nur irgendein viel zu flaches Betonding irgendwo in Niedersachsen mit einer unterdurchschnittlichen Anzahl an Gleisen.
Wenigstens gibt es einen Witz. Kurz hinter dem Bahnhof ist das Hotel Neun ¾, ja, genau, wie in Harry Potter, nur Gleis statt Hotel, ihre Schrift auf dem Schild haben sie da auch her.
Das Schloss. Irgendwo da drin ist ein Theater.
Bild von hier.
Also, was? Ich komme an. Zwei Umhängetaschen, eine rechts, eine links, eine braun, eine blau-grau, baumeln an mir rum. Ich bin müde, jetzt schon. Der Auftritt am Tag vorher, Lesung, Luftgitarre. Eine kurze Nacht. Bier. Den ganzen Vormittag Botho Strauß gelesen. Vier Stunden Zugfahrt. Wenigstens bin ich nicht mehr mit in diesen Laden namens Trinkteufel gegangen. Pete Doherty ist da mal abgestürzt, sagt das Internet. Mich hätte das garantiert umgebracht. Wenn nicht gestern Abend, dann jetzt.

Vom Bahnhof bis zum Schlosstheater ist es nicht weit, eine Viertelstunde zu Fuß vielleicht, aber es ist kalt geworden, ich dachte es sei nur ein Berlin kalt, weil es in Berlin immer kalt ist, wenn ich da bin, aber es ist überall kalt. Schnee. Ich bin zu dünn angezogen, als ich losgefahren bin, war noch Frühling. Im Celler Theater läuft die Odyssee, nach Botho Strauß, und ich soll sie besprechen. Im Moment fühle ich mich eher selbst wie Odysseus, als er endlich in Ithaka ankommt und feststellt, dass sie ganze Scheiße immer noch nicht vorbei ist.

Entschuldigung? Was wollen Sie hier?“, fragt einer von den drei Typen, die am Eingang des Schlosstheaters rumstehen. Es ist tatsächlich ein Schloss, sauber restauriert, weiß angestrichen, mitten in einem Park. Ich bin auf dem Weg an einem riesigen Bronzepferd vorbeigekommen, und an einem alten Mann, der im Dunkeln Enten fütterte. Überlegte, ob man eine Kurzgeschichte daraus machen könnte.
„Äh“, sage ich. „Ich wollte ins Theater.“
„Aber nicht so“, sagt er.
Ich nehme es ihm nicht übel. Ich weiß, wie ich aussehe. Augenringe. Die zwei Taschen über den Schultern. Kann sein, dass ich noch nach Bier rieche, und dem Rauch von gestern Abend. An mir vorbei läuft das Premierenpublikum, die Abonnenten, die schwarzbeanzugten Herren, die abendbekleideten Damen, diese Leute, die bei solchen Premieren immer vorbeikommen. Wahrscheinlich sind sie nur zu gut erzogen, um die Nase zu rümpfen, wenn sie an mir vorbeigehen. Vielleicht nehme ich mich aber auch selbst zu wichtig. Wer weiß.
„Wenigstens die Taschen“, sagt der eine Türtyp, „müssen Sie aber an der Garderobe abgeben.“
Das kommt mir entgegen. Besser, als das ganze Zeug unter einen dieser unbequemen Theatersitze quetschen zu müssen, wo sie eh nicht hinpassen.

„Die Jacke aber auch“, sagt die Frau an der Garderobe, Typ mütterlich-rundlich.
Damit habe ich zwei Probleme. Einmal, weil ich die Jacke noch brauche. Die Garderobe ist in der Vorhalle, der Empfangshalle des Schlosses. Zum Theater geht es über einen Innenhof. Da, wo man auch rauchen kann. Und draußen schneit es. Ich muss da noch lang, und ich möchte noch rauchen. Ich möchte beides nicht nur in dem Hemd tun, das ich unter der Jacke trage. Das ist das eine Problem. Das andere ist, dass ich dann auch meine Mütze abgeben muss, weil Mütze ohne Jacke nicht geht. Ich trage die Mütze schon fast den ganzen Tag. Meine Haare sind darunter sicher plattgedrückt, das sieht sicher richtig scheiße aus, wäre mir normalerweise auch egal, aber dazu noch der Biergeruch, der Rauchgeruch, toll.
„Es ist kalt draußen“, versuche ich sie zu überzeugen.
„Brandschutz“, sagt sie. Und damit hat sich das dann auch erledigt.

„Kann ich Ihnen helfen?“, sagt die Frau am Kartenschalter. Sie hat löwenmäßig geföhnte Haare, mittelstark geschminkt, viel auf den Augen, viel auf den Wangen.
„Ich kriege eine Pressekarte“, sage ich, und versuche, irgendwie seriös auszusehen. Ich meine, den Mann hinter mir in der Schlange kichern zu hören.
Die Sache ist auch die: Das alles hier ist meine Schuld. Ich hätte früher ins Bett gehen können, ich hätte ein Hemd zum wechseln mitnehmen können, ich hätte ein Sakko mitnehmen können, dann wäre das alles viel einfacher. Aber ich dachte: Lieber nicht so viel mitschleppen. Das Autorenkostüm von der Lesung gestern abend reicht ja wohl auch im Theater, dachte ich. Anderseits hatte ich die Lesung zugesagt, als die Pressabteilung vom Theater sich – zwei Wochen nach meiner Email – sich noch nicht bei mir gemeldet hatte, ob man mich jetzt reinlässt oder nicht. Serverumstellung oder so, hieß es dann. Egal. Ich hätte mich nicht anders entschieden. Ich hätte es nicht anders haben wollen. Geht schon irgendwie.
„Auf welchen Namen?“, fragt die Löwenfrau.
Ich sage ihr meinen Namen, sie fischt mit spitzen Fingern meine Karte von irgendwo her, überrascht, dass ich die Wahrheit sage.
Ich gehe auf die Toilette, und versuche zumindest meine Haare wieder hinzukriegen. Vergiss es, sagt mein Spiegelbild.
Geht schon irgendwie. Das klingt gut in der Theorie. In der Praxis nicht so.

„Entschuldigung?“, das ist das Wort, das am meisten im diesem Theaterraum gesprochen wird. Die Gänge zwischen den Sitzen sind eng. Dementsprechend ist das Publikum vor der Vorstellung einer Art permanenter Durchlass-Laola-Welle beschäftigt. Alle sind besser angezogen als ich.
Ich bin einer der letzten, die sich auf ihren Platz setzten. Ich wollte noch nicht reingehen, wanderte vorher noch ein bisschen durch die labyrintischen Gänge im Schloss. Betrachtete die Ölportraits irgendwelcher Toter aus dem Hause von und zu Hannover. Zweisprachige Infotafeln. Rosenstuck an der Decke. Auf jedem freien Platz sitzen schick gemachte Rentner.

„Hallo!“, das ist das zweithäufigste Wort, dass im Theaterraum gesprochen wird. Es ist ein hübscher Raum, hufeisenförmig, frisch restauriertes Barock mit goldenen Säulen und aufgemalten Blumen auf den Logenbalkonen. Über der Bühne hängt ein Wappen, ein Löwe und ein Einhorn stützen sich auf einen Schild.
Kucken, wer sonst noch da ist. Auch: Konkubinen.
Bild von hier.
Offensichtlich kennt hier jeder jeden, jeder begrüßt jeden, die Vorstellung ist ein Anlass, mal wieder Freunde zu treffen. Es erinnert mich an die Opéra Garnier in Paris, und an die riesige Treppe, die es dort gibt, die, sagte der Führer, zur Zeit absolutistischen Ludwigs zu nichts anderem da waren, als irgendwo da rumzustehen und zu kucken, wer noch alles da ist. Eine einzige High-Society-Parade. In der Königsloge stand auch ein Bett, und sie hatte Vorhänge, falls irgendeinen absolutistischen Ludwig seine aktuelle Konkubine mal mehr interessierte als die gerade auf der Bühne laufende Oper. Live-Oper als musikalische Untermalung beim Sex mit der Konkubine. Das hat Stil. Ich schaue mich um, aber es gibt hier keine Vorhänge an den Logen. Und, soweit ich sehen kann, auch keine Betten.

„Ich habe auch Ihren Platz“, sagt der Mann, der links neben mir sitzt, und zeigt mir seine zwei Abonnenten-Karten. „Die eine“, sagt er, „brauche ich aber nicht. Die können Sie gerne haben, falls Sie ihre verlieren.“
Ich frage mich, wer eigentlich auf meinem Platz hätten sitzen sollen. Seine Frau? Vielleicht. Ist sie krank? Verstorben? Und jetzt bin ich der schale Ersatz, den er hat? War das gerade ein Hilfeschrei?
„Oh, Danke“, sage ich.
„Entschuldigung?“, sagt jemand anders, und wir müssen alle wieder aufstehen. Ein Päarchen rechts neben mir macht einen Witz darüber. Der links neben mir hustet. Hustet dann überhaupt die ganze Zeit über. Und dann geht das Licht aus: Odysseus kippt auf die Bühne, seine Kiste mit Kriegsbeute aus Troja umklammert. Und glaubt nach der langen Irrfahrt nicht so Recht, dass er tatsächlich schon zu Hause sein könnte. Ich verstehe das. Gleichzeitig könnte ich aber auch einfschlafen, jetzt, hier in den unbequemen Sessel.

„Eine Cola und eine Brezel, bitte“. Es ist Pause, Odysseus will danach einen Bogenwettkampf abhalten, damit klar ist, wer der Mann im Haus ist, und die 300 Leute, in in den Saal passen strömen alle gleichzeitig raus, von der breiten Treppe durch die engen Schlossgangtrichter, zu der einen Theke, an der sie etwas zu trinken bekommen können. Strauß hat den Text rhythmisch geändert, nicht mehr diese homerischen Hexameter, trotzdem immer noch stellenweise repetitiver Textsingsang, der mich schläfrig macht; ich brauche die Cola. Gegessen habe ich noch nicht wirklich was. Heute morgen ein Croissant. Auf dem Weg ein Brötchen. Salz ist auch gut. Die Frau hinter der Theke, Studentin, wahrscheinlich, Thekenaushilfe, braucht lange, um die Cola und die Brezel im Kopf zusammenzurechnen, und noch länger, um mein Wechselgeld zu finden. Aber sie lächelt. Der erste Mensch, der mich hier anlächelt.
Der Nachteil daran, Theaterkritiken zu schreiben ist, dass man alleine unterwegs ist, und in den Pausen rumsteht wie ein Idiot. Zuhause wäre jemand da, den ich kenne. In ein paar anderen Städten wahrscheinlich auch, und sei es nur irgendein anderer Kritiker. Aber in Celle? Ich kenne keinen Menschen in Celle. Ich stelle mich in eine Ecke und betrachte den Stuck an der Decke. Florale Muster, nichts interessantes. Alle anderen stehen rum, unterhalten sich, haben Sektgläser. Alle in dieser Abendgeraderobe, und ich in meinem schwarzen Hemd von gestern und einer H&M-Jeans und schlecht sitzenden Haaren.

„Wann haben wir das letzte Mal die Odyssee gesehen?“, fragt die Frau, die rechts neben mir sitzt. Ihr Mann nuschelt etwas, das sich anhört wie 1984. Könnte auch ein anderes Jahr sein. 80er, auf jeden Fall. „Entschuldigung?“, sagt wieder jemand, und alle stehen wieder auf. Und dann geht’s los. Odysseus. Entscheidungsschlacht. Textsingsang. Ein Bild des Publikums wird an eine Leinwand im Hintergrund der Bühne projiziert. Irgendetwas darüber, dass wir alle auch mitschuldig sind, ich weiß nicht, genau, an was, irgendwas mit Kapitalismus. Ich denke: Toll, das ist das letzte, was ich gebrauchen kann. Mich selbst in Großaufnahme sehen.

Wenn ich eines hasse, dann ist es diese Art beim Theater einfach immer weiter zu klatschen, dass dann alle noch zweimal, dreimal auf die Bühne kommen, und dann hört es immer noch nicht auf. Das geht einfach immer weiter. Das gibt es in keiner anderen Kunstform. Ich weiß nicht, was was soll. Das hat sicher historische Gründe, keine Ahnung. Als Odysseus sich zum dritten mal verbeugt seufze ich leise: Nein. Der Mann links neben mir hat es gehört, er dreht sich zu mir, lächelt, sagt: „Da haben sie Recht. Jetzt ist auch langsam mal gut.“
Und dann ists auch gut. Am Ende lasse ich mich treiben, von den Herrschaften in ihrer Abendkleidung, durch die Menge, ich gehe runter zur Garderobe, lasse mir meine Taschen geben, grüße kurz das Bronzepferd im Park, und erwische noch rechtzeitig einen Zug nach Hause. Auf dem Weg schenkt mir jemand eine Zigarette. Zuhause schmeiße ich meine Taschen in die Ecke, mache mir einen Kaffee, und fahre den Computer hoch. Noch ein, zwei Stunden, denke ich, dann ist es vorbei, und starre kurz noch in Richtung meines Bettes. Auf dasvon Odysseus war ich immer ein bisschen neidisch.

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