Freitag, 18. Oktober 2013

Die Irre, das Mädchen und die Straßenbahn

Ich bin im April - nach langen, schönen Jahren in einer WG, in der so viel Geschichte passiert ist, dass es für ein ganzes Leben reicht - umgezogen. Ich verbrachte damals die letzte Nacht in meinem alten Zimmer mit zwei Dosen Bier und drei Zigaretten, zwischen meinen Kartons auf einer Matratze. Ich roch noch die frische Farbe an den Wänden, und dachte an alles, was ich in dem Zimmer erlebt hatte. Und daran, was ich in der neuen Wohnung vielleicht so alles erleben würde. Meine übliche Wehmütigkeit, wenn ich einen Ort verlasse und irgendwo anders ankomme, wo ich es noch nicht so gut kenne. 
Dazu kam, dass ich in das Viertel zog, in dem meine Großeltern den 2. Weltkrieg verbracht hatten, und wahrscheinlich sogar beim selben Metzger das erste Grillfleisch des Jahres kaufte. Das fühlte sich eigenartig an, wie Erzählstränge, die plötzlich zusammengeführt wurden, obwohl es eigentlich noch keine Zeit dafür war. Vielleicht auch nur Zufall. 
Nachdem jedenfalls das ganze Umzugschaos bewältigt war, dachte ich, ich schreibe einen kleinen Essay, der da alles würdigt und irgendwie zusammenführt.
Ich schrieb den Essay, und dann lag er ein paar Monate lang auf meiner Festplatte rum. 




All die überblitzen Kleinigkeiten 


Straße ohne Bahn. Bild von mir. 
 Die Menschen, die ich auf dem Weg verloren habe. Die Menschen, die immer noch vorbeikommen, wenn es geht. Die Festivals, die Konzerte, die Parties. Die Exfreundinnen. Die überblitzten Kleinigkeiten, mit denen wir die Wohnzimmerschränke tapeziert haben. 
10 Jahre. Ich könnte jedes Foto beschreiben, auswendig, aber das muss ich nicht. Wir haben sie an den Schränken aufgehängt, weil sie eine hässliche Farbe haben. Wir haben sie aufgehängt, weil wir uns gerne erinnern wollten. Sie baumeln zehn Zentimeter vor meinem Gesicht, während wir die Schränke runtertragen. Wir stellen sie alle an den Straßenrand. Eine Schrankwand nach der anderen.
Sperrmülltag.

An der Straßenbahnhaltestelle sitzt eine Frau, ich weiß nicht, ob sie lacht oder weint. Auf jeden Fall ist es laut, alle hören es, keiner sieht hin, wie man das mit Irren eben macht. Sie trägt eine lilane Barettmütze mit weißen Applikationen, überhaupt auch sehr viel lila an der Jacke, überall. Es ist noch ein bisschen kalt, es regnet, der Frühling versteckt sich noch kurz außer Reichweite. Ich mag das Geräusch der Straßenbahn, wie sie metallisch über die Schienen gleitet, dieses Klingeln, das klingt, als hätte es vor hundert Jahren schon so geklungen, damals, als noch niemand daran dachte, dass der Stadtteil zerbombt werden könnte, oder voller junger Familien und Bioläden sein. Es werden nicht die selben Straßenbahnen sein, aber vielleicht hatten sie einen Soundingenieur, der das Klingeln von damals rekonstruieren musste, der nächtelang daran gesessen hat, der historische Quellen ausgewertet hat, der dann schließlich, irgendwann frühmorgens in sein Studio gegangen ist, und als nach einer langen Nacht die Sonne aufging, hatte er es: Das perfekte Straßenbahnklingen. Vielleicht ist es so exakt konstruiert. Vielleicht ist das aber auch nur Zufall. Wer weiß. Die Lachweinfrau steigt mit mir ein. Drinnen macht sie keine Geräusche mehr. Sie hört einfach auf, und steigt eine Station später wieder aus. Ich schaue ihr nach, sie rückt sich ihre Mütze zurecht.