Donnerstag, 15. Mai 2014

Abschiedsgespinste

Von 2003 bis - ich weiß nicht genau, die Meinungen gehen auseinander - 2010, ja, das ist möglich, studierte ich in Hildesheim Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus. Irgendwann hörte ich damit einfach auf. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass ich in der Zeit wahrscheinlich bei niemandem mehr lernte als bei Stephan Porombka. Das war nicht immer einfach, nicht immer wenig merkwürdig, aber auf jeden Fall: Interessant. Fordernd. Neu. Diese ganzen Sachen.  Wenn ich heute in der Lage bin, sowas hier in zwei Stunden zu schreiben, dann was Stephan der erste, der der Meinung war, es sei auf jeden Fall nötig, sowas in zwei Stunden zu schreiben. Man kann ihm bei Twitter folgen, das lohnt sich. Man kann ihm bei Facebook folgen, lohnt sich auch.  Man kann von ihm lernen, wie man das beides benutzt

2013 verließ er unser kleines, beklopptes Nest und lehrt seitdem in einem noch größeren, noch bekloppteren Nest. Wir schrieben ihm ein kleines Abschiedsbuch. Es gibt nur ein Exemplar, man kann es nicht kaufen, es wurde handgedruckt und alle diese Sachen, die man mit Büchern eigentlich nicht mehr macht. 


Einer der anderen Texte daraus steht hier online


Und meiner, klar, hier drunter. 


Achso, und das mit den Ameisen, das hat seine Gründe (und noch ein paar mehr).





Ameisen quälen
Lose Notizen zu kleinen Tieren

Der Künstler als junger Mann
Bild: Stephan Porombka
Früher, an warmen Sommertagen, quälten wir Ameisen. Nicht absichtlich, hätten wir die Wahl gehabt, wir wären drinnen geblieben, und hätten, wie an jedem Nachmittag damals, Prince of Persia gespielt, aber vielleicht sollten wir raus, weil schönes Wetter war, vielleicht sollten wir auch raus, weil  Wochenende war, und der Vater den Familiencomputer brauchte. Also quälten wir Ameisen. 
Zuerst taten wir gar nichts, wir saßen nur um einen dieser kleinen Erdhügel herum, und sahen dabei zu, wie die Ameisen raus- und reinkrabbelten, mir irgendwelchen Stöckchen oder anderem Kram auf dem Rücken. 
Die nächste Stufe war, dass jemand mit dem Fuß über den kleinen Erdhügel rieb, ein kurze, konzentrierte Bewegung, die den Erdhügel platt wischte, und dann saßen wir wieder da, und beobachteten, wie Bewegung in den Laden kam. 
Wir kannten unterschiedliche Arten von Ameisen: Rote und schwarze. Wenn man nur mit dem Fuß über ihren Erdhügel wischte, unterschieden sie sich nicht groß, sie liefen panisch durcheinander wichen von den Wegen ab, die sie vorher gegangen waren, produzierten Chaos, und erst auf den zweiten Blick – wenn wir damals einen zweiten Blick warfen – erkannte man, dass sie eigentlich nichts versuchten außer die ganze Erde, die in den Bau gefallen war wieder rauszuwuchten, den Hügel wieder aufzuschichten, den einen, konzentrierten Wisch mit dem Schuh wieder auszubügeln. 
Rote und schwarze Ameisen unterschieden sich erst, wenn man weiter machte. Wenn einer von uns, beispielsweise, einen kleinen Stock nahm, und begann, damit in den Loch herumzustochern, das unter dem Erdhügel lag, und der Eingang zum Ameisenbau war. 
Schwarze Ameisen begannen bei der Stöckchenbedrohung immer entweder damit, den ganzen Bau zu evakuieren, alle liefen raus, wenn man lange genug weitermachte, sah man auch irgendwann, wie sie die weißen Ameisenlarven nach irgendwo anders trugen. Oder sie machten einfach alles dicht, zogen sich in den Bau zurück, und kamen nicht wieder raus. So oder so versuchten sie nicht, irgendetwas gegen das Stöckchen zu tun. Sie liefen nur weg. Von schwarzen Ameisen wurde selten jemand von uns gebissen. 
Wir fanden die roten Ameisen interessanter, und wir wussten, dass sie zwar kleiner waren, und seltener, dass aber ihre Bisse auf jeden Fall schmerzhafter waren. Wenn man in einem Bau mit roten Ameisen mit einem Stöckchen herumstocherte, vielleicht sogar zu abgelenkt war, um auf seine Schuhe zu achten, wurde man auf jeden Fall gebissen: Die roten Ameisen griffen auf allen Fronten an, ein paar krabbelten über das Stöckchen auf die Hand, die es hielt, die anderen krabbelten über die Schuhe, in die Hose, über die nackten Beine; zuerst kribbelten sie, dann bissen sie. 
Wir liebten es, Ameisen zu quälen. Einmal hatte ich eine in der Unterhose.


Als ich gerade 20 geworden war, stolperte ich in einem Tshirt, auf dem das Wort „Mensch“ in großen, weißen Plastikbuchstaben stand, auf die Domäne Marienburg, und wusste gar nichts. Das heißt, ich wusste, dass an diesem Tag etwas geprüft werden sollte, dass sich „künstlerische Befähigung“ nannte, ich wusste, dass ich das schonmal Scheiße fand, weil ich, auch, wenn sich der Gedanke noch nicht so, in diesem Satz bei mir formuliert hatte, glaube, dass ich glaubte, dass jeder ein Künstler sei. Ich wusste, dass ich jeden Fall ich einer bin. 
Ich wusste nicht, wo genau ich hin sollte.  
Irgendwo weiter hinten gab es Kaffee und Brötchen. Es war warm. 
Man könnte es hier, dachte ich, aushalten. Wahrscheinlich nichts lernen, aber aushalten. 
Später saß ich in der Sonne, aß studentisch geschmierte Brötchen, trank studentisch gebrauten Kaffee, und fragte mich, wo das alles hinführen sollte. 
Noch später bestätigte mir man schriftlich, was ich sowieso schon wusste: Dass ich ein Künstler sei.  Das „Mensch“-Tshirt hatte ich noch ein paar Jahre, aber durch das jahrelange Tragen ging es irgendwann kaputt. 

Stephan P. und Josef K. 
Bild: Stephan Porombka
„Eine einzelne Ameise“, schreiben wir einmal in einem Vorwort, „hat ein sehr begrenztes, aber auch sehr funktionelles Verhaltens- und Reaktionsrepertoire. Im selbst organisierenden Zusammenspiel ergeben sich jedoch Verhaltensmuster, Abläufe und Resultate, die aus menschlicher Sicht 'intelligent' genannt werden können.“ Das Zitat stammt von Wikipedia, und selbstverständlich fanden wir auch das gut, wir fanden alles gut, wir waren besoffen von unserer Idee, ein bisschen auch von uns selbst. „Der Versuch, gemeinsam einen Text zu komponieren“, steht im Nachwort: Wir, die Ameisenautoren, schwärmten über diese größenwahnsinnige Idee von Literaturfestival namens „Prosanova“, und erlebten es, während wir es notierten. Oder umgekehrt. Und am Ende häuften wir die ganzen kleinen Stöckchen und den ganzen Krempel an, und hofften, dass andere Leute unseren Ameisenhaufen mögen würden, den wir, wieder besoffen von unserer eigenen Idee, „Prosanovela“ nannten. 
Wir waren keine Autoren in diesem Buch, wir hatten keine Namen, wir waren Ameisen, die Dinge zusammentrugen und anhäuften, und als uns jemand deswegen mit einem Stöckchen ärgerte, machten wir schwarze Zensurbalken über einzelne Passagen. Ich frage mich, ob wir rote oder schwarze Ameisen waren. 

Vielleicht war ich 25, vielleicht auch 27, auf jeden Fall lag ich im Bett, als ich diese SMS bekam. M. lag neben mir, und bekam 30 Sekunden später eine SMS. Wir beide wachten dazu auf, bevor wir auch nur Guten Morgen gesagt hatten, oder so etwas, griffen wir unsere Handys, lasen, sahen uns an, lachten. 
Wir arbeiteten für denselben, der mir bestätigt hatte, ich sei künstlerisch befähigt, und er schickte uns Arbeitsanweisungen im 30-SeKunden-Takt. Wir standen auf. Machten Kaffee. Und gingen dann unsere Wege, voll beladen mit dem Kram, den wir tun sollten.

Ich war 27, und wir waren alle bei Facebook, und eine Zeit lang waren wir dort glücklich. Wir wuselten alle durcheinander, und zusammen erschufen wir einen Stream, der besser war als alle anderen Streams. Weil es Pointen gab, aber auch ernsthaftes. Weil wir kommentierten, komponierten, und likten. Weil wir alle kreativ waren, und es auch zeigten, und unser Stream ein surrendes, flirrendes, gigantisches Werkstattgespräch wurde. Wir schleppten Dinge heran, die wir fanden, die wir dachten, die wir sahen, und häuften sie aufeinander. Und irgendwie wurde es nicht mehr. Irgendwie versanken alle diese Dinge im Boden, oder vielleicht hatten wir sowieso schon immer unterirdisch gearbeitet. Und irgendwo in den Beziehungen aller dieser Menschen, stelle ich mir vor, gibt es dieses Tunnelwerk, durch das man kriechen kann, wenn man es findet. Irgendwo da unten liegen Gedankenlarven, die auf Facebook angefüttert wurden, und später größer wurden, vielleicht sogar die ein oder andere neue Königin. 

Ich werde demnächst 30. Ich sitze im Park, ein Hipster-Bier in der Hand, das es nur hier, in diesem Stadttteil gibt, und sonst nirgends. Es ist der Tag, an dem hellgrüne Raupen von dem Bäumen fallen und orientierungslos über den zugewachsenen Boden kriechen, in Richtung nach irgendwo, wo sie sich in die Erde buddeln können. In der Sonne leuchten die Raupen, irgendwann später werden sie Nachtfalter. Die Raupen kriechen alle in dieselbe Richtung, dorthin, wo  die größeren Büsche wachsen, an den Rand der Pflastersteine. Auf dem Weg ist eine Ameisenstraße. Die Raupen müssen irgendwie darüber, und ich hoffe auf mikroskopisches Gemetzel zu meinem Superlokalbier.
Es gibt kein Gemetzel. Es sind schwarze Ameisen,  denen es egal ist, was für Raupen über ihre Straße kriechen. Sie laufen einfach drumrum. Ich trinke noch einen Schluck Bier, erinnere mich an früher, und stecke ein kleines Stöckchen in das Loch, in dem sie alle verschwinden. Ich stochere nicht in dem Loch herum, ich stecke das Stöckchen einfach hinein, und warte, was passiert. 
Die Ameisen sind offenbar der Meinung, dass sie es gut gebrauchen können. Es bewegt sich, sie zerren es in ihren Bau, 1, 2 Zentimeter pro Minute, vielleicht, und als mein Bier leer ist, sind sie schon ziemlich weit gekommen. 
Ich stehe auf, kippe die zwei, drei restlichen Tropfen Bier in den Ameisenbau, und gehe, ohne nachzusehen, was passiert. Über mir hüllen Seidenspinner die Baumspitzen in Gespinste ein. 

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